Berlin Hauptbahnhof – Lehrter Bahnhof

Bügelgebäude

Giganten neigen sich

Die Brückenhälften der Bügelgebäude des Berliner Hauptbahnhofes wurden im Sommer 2005 an zwei Wochenenden in einem Aufsehen erregenden Montagevorgang wie Zugbrücken über die Ost-West-Bahnhofshalle geklappt.

Mit dem in elfjähriger Bauzeit neu erbauten Berliner Hauptbahnhof an der Stelle des historischen Lehrter Stadtbahnhofes wird ab Mitte 2006 der größte Kreuzungsbahnhof Europas pünktlich zur Fußballweltmeisterschaft in Betrieb gehen.

Im Rahmen dieser Baumaßnahme errichtete die Donges Stahlbau GmbH über dem bereits bestehenden Ost-West-Glasdach die Rohbauten der so genannten Bügelbauten. Sowohl die Stahl-konstruktion mit einem Gesamtvolumen von ca. 9.500 Tonnen als auch der Massivbau für Decken, Treppenhäuser und Aufzugsschächte mit ca. 16.500 Kubikmetern Beton und Leichtbeton und 3.500 Tonnen Bewehrungsstahl waren im Auftragsvolumen enthalten. Zwischen vier 12-geschossigen Türmen mit 46 Meter Höhe aus bis zu 1000 Tonnen Stahl überspannen zwei Brücken mit vier Geschossen die Bahngleise mit einer Spannweite von 87 Meter. Jede Brücke wiegt beim Kippvorgang 2.500 Tonnen. Zusätzlich tragen diese Brücken das dazwischen liegende 210 Meter lange Nord-Süd-Glasdach, das durch den ARGE-Partner MERO TSK gefertigt und montiert wurde. Jeder der beiden Bügelbauten umfasst 22.000 Quadratmeter Geschossfläche.

Das Brückentragwerk besteht im Wesentlichen aus zwei seitlichen Fachwerkscheiben in Stahlverbund, die die dazwischen liegenden vier Geschosse der Brücke tragen. Das Nord-Süd-Glasdach hängt an den innenliegenden Fachwerkscheiben der Brücken und schließt als Dach der zukünftigen Bahnhofshalle die Lücke im Ost-West-Dach.

Um die Brückenkonstruktion der Bügelbauten ohne Beeinträchtigung des Bahnverkehrs errichten zu können, wurde ein außergewöhnliches Montagekonzept gewählt: hierbei wurden je zwei Brückenhälften senkrecht auf einer Plattform in der fünften Geschossebene der Bügeltürme errichtet, um bei gesperrtem Bahnverkehr über zwei auf den Turminnenseiten liegende Gelenke – ähnlich dem Schließen einer Zugbrücke – gegeneinander in die waagerechte Endlage geklappt und endgültig miteinander verschweißt zu werden.

Seit zweieinhalb Jahren geplant – es waren immerhin 2.500 Zugverbindungen vom innerstädtischen S-Bahn- bis europäischen Fernverkehr betroffen –, hatte die erste von zwei „Sperrpausen“ für den spektakulären, weltweit beachteten ersten Klappvorgang für die Westbrücke von Freitag, 29. Juli 2005, 22.00 Uhr bis Montag, 01. August 2005, 04.00 Uhr stattgefunden. Nach 20 Stunden hatten die beiden Brückenteile die waagerechte Endlage erreicht. Zwei Wochen später, vom 12. bis 15. August 2005, wurde die Ostbrücke nach gleichem Verfahren in ihre Endlage gebracht.

Die weltweit tätige Schweizer Firma VSL verantwortete im Auftrag von Donges die Schwerlast-Hebetechnik für den Klappvorgang. Hydraulische Pressen huben, hielten und senkten mit Hilfe von Stahllitzenbündeln die jeweils 1.250 Tonnen schwere Fachwerk-konstruktion einer Brückenhälfte.

Zunächst wurde jede Brückenhälfte mit einer Zugkraft von ca. 650 Tonnen angehoben und über die Gelenke auf neun Grad aus der Senkrechten geneigt. Die dazu erforderliche Hubvorrichtung, die aus insgesamt vier paarweise angeordneten Pressen und Litzenbündeln bestand, war auf dem obersten Turmstockwerk installiert. Nun war ausreichend Platz, um die unterhalb der Befestigungspunkte der Hubvorrichtung angeschlagene Absenkvorrichtung zu montieren. Die Absenkvorrichtung, die bis zu 1.400 Tonnen Zugkraft in waagerechter Brückenlage aufnehmen musste, bestand je Brückenhälfte aus zwei mal vier Pressen und Litzenbündeln. Der eigentliche Klappvorgang begann, als das Bauteil aus der Neun-Grad-Lage in den Neigungsbereich des „labilen Gleichgewichtes“ eingeschwenkt war. In dieser Lage hätten bereits kleine horizontale Windlasten die Kipprichtung des Bauteils beeinflussen können, wäre es nicht in beide Richtungen durch die Hub- und Absenkvorrichtung gehalten gewesen. Die Pressen wurden so gesteuert, dass die Litzenbündel zu keinem Zeitpunkt lastfrei waren, die Konstruktion also ruckfrei über den Schwerpunkt geklappt werden und somit nicht wegkippen konnte. Bei Windstille betrug der zugehörige Neigungswinkel 29,5 Grad, in Abhängigkeit von Windrichtung und –stärke (bis zu 108 Kilometer pro Stunde) zwischen 15 und 37 Grad.

Bei 37 Grad Neigungswinkel zur Senkrechten wurden die Hublitzen spannungsfrei; die Hubvorrichtung konnte abgebaut werden. Das Gewicht der klappenden Halbbrücke wurde jetzt nur noch von der Absenkvorrichtung getragen. Hatten die Brückenhälften unter ständiger Überwachung der Vermessungsingenieure die waagerechte Lage erreicht, wurden sie als Vorbereitung für die spätere Verschweißung miteinander verschraubt. Zum Ausgleich von Temperatureinflüssen und/oder Toleranzen der Drehachse standen Pressen bereit, mit denen beide Brückenteile in allen Achsen aufeinander ausgerichtet werden konnten. Nach abgeschlossener Verschraubung war auch die Absenkvorrichtung nicht mehr erforderlich, das statische Tragsystem des Nutzungszustandes hatte sich eingestellt.

Im Rahmen einer Sperrpause standen maximal 54 Stunden für den Klappvorgang und begleitende Arbeiten wie den Einbau der Bodenbleche der Brücke zur Verfügung.

Bauvorhaben
Nord-Süd-Verbindung
Berlin Hauptbahnhof – Lehrter Bahnhof

Bauherr
DB Station&Service AG
vertreten durch:
DB ProjektBau GmbH
Niederlassung Ost
10963 Berlin

Zwei Bügelbauten als Büro-Geschoßbau in Verbundbauweise, zwei Fachwerkbrücken mit 87 Meter Stützweite über den Gleisen.

Gerkan, Marg + Partner
21129 Hamburg

Schlaich, Bergemann & Partner
70178 Stuttgart

Stahlverbundtragwerk
Gebäudelänge 220 m
Gebäudebreite 2 x 22 m
Gebäudehöhe 47 m
2 Fachwerkbrücken Spannweite je 87 m

Außenliegende Stahlkonstruktion für Geschoßbauten und Fachwerkbrücken, innenliegende Stahlverbundkonstruktion mit Aussteifungssystem der Kerne in Stahlbetonbauweise.

Baujahr 2004 / 2006